Direkt zur Hauptnavigation oder zum Inhalt.
12 Schoa-Überlebende kamen nach Berlin um sich im "Haus der Wannsee-Konferenz" ihrer Geschichte zu stellen. Eine Reportage.
Der Kontrast zwischen drinnen und draußen könnte nicht größer sein. Im Garten des „Hauses der Wannsee-Konferenz“ flanieren internationale Besuchergruppen lachend im Licht des warmen Sommertages. Drinnen im Konferenzraum erheben sich 12 Überlebende der Schoa zu einem Moment der Stille und des Gedenkens. Einige falten ihre Hände und senken ihre Köpfe. Andere schauen im Raum umher. Immer wieder streifen ihre Blicke die Porträts von 15 Männern, die an einer Wand ausgestellt sind. Die Männer auf den Fotos sind zwischen 30 und 50 Jahre alt, haben glatt gestrichene und gescheitelte Haare, stecken in SS-Uniform oder in Anzug mit Krawatte, mal lächelnd, mal ernst, mal in die Kamera schauend, mal geht der Blick in die Ferne. Ihnen gegenüber stehen die Überlebenden: vom Alter gezeichnete Gesichter, Falten, weißes Haar oder Glatze, gekleidet in lockerem Hemd oder mit Sakko und Krawatte. Es ist als ob sie sich in die Augen schauen würden: Die Überlebenden und diejenigen 15 Verantwortlichen, die hier in diesem Raum vor 70 Jahren die Vernichtung der europäischen Juden planten.
Die Überlebenden kommen aus Russland, Israel, der Ukraine und Deutschland und sind in Organisationen ehemaliger Häftlinge und Zwangsarbeiter aktiv. Manche von ihnen sind als Kinder in Ghettos geboren worden, andere überlebten die nationalsozialistische Verfolgung als Jugendliche. Vom 20. bis 24. August 2012 organisierte Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. (ASF) eine Besuchsreise für sie nach Berlin. 70 Jahre nach der Wannsee-Konferenz wollten die Überlebenden die Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ und andere Orte des Gedenkens in Berlin besuchen.
„Wir sind immer noch auf der Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Warum“, sagt die 75-jährige Gitl Koifman aus Israel. Sie überlebte als kleines Kind das Ghetto in der Region Vinnitzija in der Ukraine. Ihre Eltern aber starben. „Ein Teil der Antworten liegt hier, fassbarer wird das Ganze dennoch nicht“, sagt Gitl Koifman, die sich um Überlebende in Israel und der Ukraine kümmert, deren Renten und Entschädigungszahlungen kaum ausreichen, um über dem Existenzminimum zu leben. Sie trägt ein Kleid mit Blumenabdrucken, eine Kette mit bunten Steinen, glitzernde Ohrringe in Herzform und eine Brille, in deren Rand funkelnde Glassteine eingelassen sind. Es ist, als ob sie den 15 Männern auf den Fotos an der Wand etwas entgegensetzen möchte, ein Zeichen: Schaut her, ich habe überlebt, euren Bemühungen zum Trotz uns alle umbringen zu lassen.
Der Leiter des Hauses, Dr. Norbert Kampe, weißer Bart, Anzug und Krawatte, im Auftreten würdig und angemessen, spricht zu der Gruppe über die Bedeutung der Wannsee-Konferenz: „Mit der Wannsee-Konferenz ist der bereits stattfinden Massenmord zu einem systematischen Völkermord an allen in Europa lebenden Juden geworden.“ Übersetzt bedeutet das: Die Entscheidung der Judenvernichtung ist vorher gefallen, bei diesem Treffen wurde vor allem geplant. Dafür spreche auch, dass die Teilnehmer der Konferenz vor allem aus den Verwaltungs- und Organisationsebenen der nationalsozialistischen Machtstruktur kamen.
Doch historische Genauigkeiten sind den Überlebenden in diesem Moment nicht so wichtig. „Es ist wichtig, die Gesichter der Henker zu kennen. Hier an diesem Ort können wir ihnen in die Augen schauen. Wir sehen, dass sie Intellektuelle waren, die den Baum des Bösen mit vollem Bewusstsein und klarem Verstand gepflanzt, mit Kopf und Herz geplant haben“, erklärt Alexej Heistver, der 1941 im Ghetto von Kaunas in Litauen zur Welt kam. 1943, als das Ghetto in ein Konzentrationslager umgewandelt wurde, kam er in eine Baracke für Kinder, an denen ein SS-Arzt medizinische Experimente durchführte. Alexej Heistver entfernte der Arzt die Zungenzäpfchen. Nur durch Glück und den Mut von Waschfrauen, die ihn und andere Kinder im letzten Moment aus dem Lager schmuggelten, überlebte er. Doch seine Eltern hat er nie wieder gesehen. Seit 1999 lebt der Historiker in Wismar.
Fast jeden der 15 Männer auf den Fotos an der Wand geht die Gruppe zusammen mit einer Vertreterin der Gedenkstätte durch. „Wann ist er gestorben? Hat er eine Strafe bekommen?“ Sie stehen auf, treten ganz nah an die Fotos heran, zeigen mit dem Finger erst auf den einen, dann auf den anderen. Bei denjenigen drei Männern, deren Leben fast nahtlos nach 1945 weiterging, die als Rechtsanwalt, Kaufmann oder Angestellter gearbeitet hatten, die normal bis ins hohe Alter weiterlebten, fragen sie erst ungläubig nach, um dann zu schweigen.
Doch dann, fast ausgelassen, ruft einer der Überlebenden in die Stille hinein: „Und jetzt das Foto.“ Die Zwölf kramen ihre Digitalkameras heraus, stellen sie dem Fotografen aufgereiht auf den Vitrinentisch, auf dem geschützt unter Glas Originaldokumente der Konferenz ausliegen. Dann stellt sich die Gruppe vor den Fotos der 15 Männer auf. Einige lachen, andere schauen ernst. Jeder passt auf, dass seine Kamera nicht vergessen wird. Dieses Foto werden sie mit nach Hause nehmen, mit nach Israel, nach Russland und in die Ukraine. Sie werden es ihren Verwandten und anderen Überlebenden zeigen. Das Foto wird ein Symbol dafür sein, dass sie überlebt haben.
Text: Karl Grünberg, Journalist und Historiker, freier Mitarbeiter im Öffentlichkeitsreferat von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
Unterstützer:
Das Besuchsprogramm wurde unterstützt von der Stiftung EVZ, dem Ebenezer Hilfsfond, dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dem Haus der Wannsee-Konferenz, dem Auswärtigen Amt, dem Bundestag, der Reederei Riedel, Buscontact, Hotel Bogota, dem Restaurant SETs und den Residenz-Konzerten im Schloss Charlottenburg.